Sybell zog ärgerlich an dem Faden, der dann keine Lust mehr hatte, ihrer Aggressivität stand zu halten und als Protest zerriss.
„Verflixt!“ fluchte sie leise, doch ihre Gouvernante hatte erwiesener Maßen die schärfsten Ohren Gondors und wand sich mit einem konsternierten Blick zu ihr um.
„Sybell! Wir fluchen nicht! Das geziemt sich nicht.“
Sybell sah halb wütend, halb zerknirscht auf und nickte langsam. Der strafende Blick ihrer Gouvernante reichte aus und sie senkte beschämt ihren Blick und fädelte den Faden neu ein. Im Stillen fluchte sie weiter über diese vermaledeite Rosenknospe, die sie schon das dritte Mal beginnen musste, da ihre Gouvernante vorher nie damit zu frieden war und ihre schlampige Arbeit angekreidet hat. Innerlich zählte Sybell bis Zehn und begann dann auf ein Neues zu sticken. Doch zu ihrem Glück wurde die Handarbeitsstunde durch ihre Mutter unterbrochen, die zur Tür des Schulzimmers herein kam. Sie lächelte warm zu Sybell und schickte dann die Gouvernante fort, um mit Sybell alleine zu sprechen. Dem achtjährigen Mädchen klopfte das Herz im Halse und sie suchte fieberhaft nach irgendwas, wofür sie bestraft werden würde, aber ihr fiel und fiel nichts ein und das Lächeln ihrer Mutter war auch alles andere als strafend. So beschränkte sie sich erst einmal darauf ihre Mutter unsicher anzusehen.
„Sybell Liebes, leg’ einmal Deinen Stickrahmen weg, ich muss mit Dir reden.“ Ihre Mutter setzte sich auf einen Stuhl und wartete bis Sybell zu ihr kam. Dann strich sie dem Mädchen liebevoll über die Haare.
„Wir werden morgen verreisen.“ Informierte sie Sybell, die daraufhin so große Augen bekam, dass ihre Mutter etwas schmunzeln musste.
„Wir werden den Herzog von Ost-Agar besuchen gehen, da sein erstgeborener Sohn nun großjährig ist. Es wird eine schöne Feier werden, Liebes.“ Sybell strahlte glücklich. Sie mochte große Feiern mit vielen Leuten und leckerem Essen und anderen Kindern, mit denen sie spielen konnte. Zwar hatte sie früher öfter mit ihrem älteren Bruder gespielt, aber mit zwölf Jahren interessierte der sich nicht mehr für die Spiele seiner kleinen Schwester und hatte unglaublich viele wichtige Lehrstunden über die alten Texte und den Schwertkampf, die Sybell nicht besuchen durfte, da es sich für ein Mädchen nicht schickte und so war sie viel alleine. Ihre Mutter hingegen bekam einen etwas wehmütigen Blick als sie das Strahlen ihrer Tochter sah und ihre Züge, die mit ihren dreißig Jahren im Spätsommer ihrer Schönheit lagen, wurden etwas weicher.
„Sybell, die Barone von Albennin und die Herzöge von Ost-Agar verbindet schon viele, viele Jahre eine Art Freundschaft. Und gute Freunde müssen sich beizeiten zeigen, dass sie gute Freunde sind. Verstehst Du das?“
Sybell nickte leicht und ihre Stirn kräuselte sich nachdenklich. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie ihre Mutter nicht wirklich verstand. Ihre Mutter strich ihr sanft über die Wange.
„Und so wurde schon als ich mit Dir schwanger war beschlossen, dass Du, sobald Du großjährig bist, die Ehefrau von dem ältesten Sohn von dem Herzog von Ost-Agar wirst, Liebes.“
Sybell blinzelte verwirrt. Ehefrau? Großjährig? Das waren doch noch zehn Jahre…eine halbe Ewigkeit.
„Aber…Du sagst doch, dass der Mann grad großjährig geworden ist, Mama. Dann ist der doch…*sie überlegte und rechnete in ihrem Kopf* sehr alt, wenn ich großjährig bin.“
Die Baroness Elraen lachte leise.
„Ich weiß, mein Schatz, dass es Dir gerade so vorkommen muss, aber das ist nicht so, wie es sich Dir gerade darstellt. Du wirst sehen. Die Verbindung zwischen unseren Häusern ist von großer Wichtigkeit und Du wirst später eine sehr gute Herzogin von Ost-Agar sein, meine Kleine.“
Sybell versuchte die aufkommende Panik zu unterdrücken. Herzogin? Sie? Das waren doch die Leute mit so unglaublich vielen Pflichten die in so riesigen Häusern wohnten und…und…ein großjähriger Mann. Bei den Valar! So schwieg sie und blinzelte erneut etwas.
„Ich erwarte von Dir, dass Du Dich in Ost-Agar von Deiner besten Seite zeigst und Dich so verhältst, wie es Dir beigebracht wurde. Cinlir soll sehen, was für eine gute Ehefrau Du eines Tages sein wirst.“
Sybell blinzelte erneut als sie nun einen Namen hatte.
„Er hat Dich schon einmal gesehen, Liebes, aber da warst Du gerade erst geboren und kannst Dich nicht mehr daran erinnern. Aber Du wirst sehen, es wird eine schöne Feier und Cinlir wird Dir gefallen.“ Sie lehnte sich vor und gab ihrer Tochter einen sanften Kuss auf die Stirn.
„Und nun beendest Du Deine Stickarbeit und gehst früh zu Bett, damit Du für die lange Reise ausgeschlafen bist, mein Schatz.“ Sie erhob sich elegant wie es ihre Art war und verließ den Raum. Sybell sah ihr noch einige Momente verdutzt nach.
Cinlir…sie sollte einen großjährigen Mann namens Cinlir heiraten. Wie hießen diese Herzöge noch gleich? Sie ging entschlossen zu dem Bücherregal und zog das Adelsregister Gondors hervor. Suchend blätterte sie darin, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Cinlir Winthallan. „Sybell Winthallan, Herzogin von Ost-Agar“, sprach sie laut aus und kicherte, da es in ihren Ohren wirklich zu albern klang. Dann nahm sie ihre Stickarbeit wieder auf und begann nachdenklich Herrin über den Kreuzstich zu werden. Das alles kam ihr wirklich äußerst merkwürdig vor, als hätte sie gerade ein Buch gelesen über die Geschichte einer anderen Frau. Natürlich war ihr bewusst, dass es Gang und Gebe war, dass Frauen Männern versprochen wurden und sie hatte auch damit gerechnet, dass irgendwann der Tag kommen würde, wo ihr gesagt werden würde, wen sie zu heiraten hatte aber so plötzlich?
„Sybell Winthallan“, wiederholte sie und kicherte erneut.
Es erschien ihr wie ein großer Witz.
Sybell war zu diesem Zeitpunkt nur acht Jahre alt, das tatsächliche Verstehen und die wirkliche Panik sollten viel später kommen.